„Wenn es Bedenkenträger nicht gäbe, müssten sie erfunden werden.“ Dieser Gedanke kam mir spontan, als ich auf Twitter einer Diskussion zur Digitalisierung folgte. Ausgelöst wurde er von dem Aufruf „Bedenkenträger und Befürworter sollen endlich in Ruhe über das Thema Digitalisierung diskutieren!“, bei dem ich über den negativ besetzten Begriff „Bedenkenträger“ stolperte.
Bedenken sind meiner Ansicht nach nichts Negatives. Ich verstehe darunter Überlegungen, die jemand aufgrund von Zweifeln oder Befürchtungen anstellt. Werden sie laut geäußert, sind sie für mich hilfreiche Botschaften und erlauben andere Perspektiven. Durch die Zusammensetzung mit dem Wort „Träger“ bekommt das Ganze allerdings eine negative Konnotation. Ich begann, über die Funktionen von Bedenkenträgern im Unternehmen nachzudenken.
Bedenken sind wichtig
Bedenken und die Personen, die sie äußern, haben wichtige Funktionen im Unternehmen:
- Sie geben Hinweise auf Bedürfnisse und Erwartungen.
- Sie schützen vor vorschnellen Aktionen und lassen erkennen, ob Sinn, Nutzen und Vorteile von Veränderungen ausreichend kommuniziert und verstanden wurden.
- Sie zwingen dazu, die eigene Haltung, die eigenen Argumente und das eigene Vorgehen auf Stichhaltigkeit zu überprüfen. Sie halten einen Spiegel vor.
- Sie zeigen, wie konstruktiv eine Organisation mit Bedenken und Befürchtungen umgeht, und sind Gradmesser für die Kultur.
Was können wir im Umgang mit Bedenken tun?
Auch wenn es gerade nicht „en vogue“ ist, die Folgen der Digitalisierung zu hinterfragen: Bedenken sollten angehört und aufgegriffen werden, sonst können sie sich zu Konflikten entwickeln. Diese zu bewältigen Zeit, Geld und Energie. Die Unternehmensberatung KPMG hat 2009 eine Studie zu den Kosten veröffentlicht, die durch Konflikte in Unternehmen entstehen.
Es lohnt sich also, sich mit Kollegen und Mitarbeitern, die Bedenken äußern, zu beschäftigen – auch wenn es lästig erscheint und nicht immer ganz einfach ist. Dafür sind unterschiedliche Kompetenzen, Fähigkeiten und überhaupt Bereitschaft gefragt. Die Führungskräfte und Mitarbeitenden in Unternehmen brauchen dafür
- die Bereitschaft zuzuhören, ohne den anderen zu verurteilen bzw. vorzuverurteilen,
- die Bereitschaft, andere Meinungen und Perspektiven anzuerkennen,
- die Zeit, mit Ruhe und Geduld (persönliche!) Gespräche zu führen, um die Bedenken aufzunehmen, zu verstehen und wenn nötig zu zerstreuen,
- Reflexions- und Kommunikationsfähigkeit, um eigene Gedanken und Argumente zu sortieren und auf Augenhöhe zu vermitteln,
- die Größe, mögliche Fehler zuzugeben und den eigenen Kurs zu korrigieren,
- die Fähigkeit, zwischen berechtigten Bedenken und vorgeschobenen Argumenten und Nörgeleien zu unterscheiden.
Die Funktion der selbsterfüllenden Prophezeiung
Wir erzeugen mit dem Etikett „Bedenkenträger“ genau das Verhalten, das wir erwarten.
Mein zweiter Gedanke beim Verfolgen der Diskussion auf Twitter war die Frage: „Wie fühlen sich die so bezeichneten „Bedenkenträger“ und wie würde die Diskussion wohl verlaufen?“ Nicht besonders gut, sagen der gesunde Menschenverstand und das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn wir ein bestimmtes Verhalten bei unserem Gesprächspartner erwarten („Der schon wieder mit seinen Bedenken“), nehmen wir dieses in unserem eigenen Auftreten vorweg. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass unser Gesprächspartner in die erwartete Rolle verfällt. Wir erzeugen mit unserem Etikett „Bedenkenträger“ also genau das Verhalten, das wir erwarten. Ein Teufelskreis beginnt, und die Kommunikation ist vergiftet.
Bedenkenträger: Skeptiker, Zweifler, Realist, Angsthase?
Bedenken und die Personen, die sie äußern, sind wichtig für Unternehmen – besonders jetzt, wo wir uns durch die Digitalisierung in einer Zeit des Umbruchs befinden. Mit Innovatoren allein ist es nicht getan. Jede Entwicklung, jede (R)Evolution hat ihre Licht- und Schattenseiten. Die Auswirkungen gehören zumindest einmal betrachtet und diskutiert. Es ist an der Zeit, Bedenken konstruktiv zu nutzen und über den Begriff „Bedenkenträger“ neu nachzudenken. Die Diskussion und die Suche auf Twitter nach einem anderen Begriff war leider nicht ergiebig: Skeptiker, Zweifler, Realist, Angsthase. Die letzte Bezeichnung fand ich so abwertend, dass sie mich zu diesem Blogartikel veranlasste. Haben Sie bessere Ideen?
Weiterlesen? Weiterdenken?
Auf der Website „Prozessbilder“ von Brigitte Seibold vertiefe ich den Gedanken der Bedenkenträger im Gastbeitrag „Schubladen-Denken“. Brigitte Seibold hat meinen Gastbeitrag mit einer feinsinnigen Illustration veredelt.
Statt Bedenkenträger bevorzuge ich ‚Diskrepanz-Sensitiver‘ = empfindsam (nicht empfindlich!) gegenüber Unstimmigkeiten. Das Bedenken einer Sache sollte ja eigentlich (siehe Bedeutung) selbstverständliche Voraussetzung bei Planungen aller Art sein. Wer Bedenken ignoriert – also das Nicht-Wissen von Risiken, Defiziten etc. nicht nicht wissen kann, sondern schlicht nicht wissen will! – ist schlicht und ergreifend dumm.
‚Dumm‘ kommt nämlich von ‚tumb‘ und das von ‚taub‘, also will der den Bedenken gegenüber Ignorante sie nicht hören und stellt sich taub, ist aber in echt dumm 😉
Der Bedenkenträger ist wie ein Mensch mit dem absoluten Gehör: Wo der eine keinen falschen Ton zu hören vermag und alles ’stimmt‘, hört derjenige mit dem absoluten Gehör eben doch falsche Töne und weiß, dass etwas nicht ’stimmig‘ ist. Das ist eben auch eine Frage der Sensitivität, deswegen die Begriffsergänzung.
Danke, Herr Mott, für Ihre Gedanken und die Begriffserweiterung.
Schöne Grüße, Ulrike Führmann