Prof. Dr. Müller über Happy End und Narrativ

Storytelling in der Krise

Storyteller Prof. Dr. Michael Müller spricht im Interview über Storytelling in der Krise.

Wie sieht Storytelling in der Krise aus? Worauf ist jetzt zu achten? Was empfiehlt ein Experte für Storytelling? Diese Fragen gingen mir durch den Kopf. Und so griff ich zum Telefonhörer und rief Prof. Dr. Michael Müller an. Aufmerksame Leserinnen und Leser meines Blogs kennen ihn bereits und wissen, dass ich seine Meinung und sein Fachwissen sehr schätze. Michael Müller ist Storyteller der ersten Stunde und nutzt Storytelling auch als Instrument der Kultur- und Organisationsentwicklung.

Ulrike Führmann: Es klingt zynisch. Diese Krise bietet sehr viel Stoff für die perfekte Story eines Hollywoodfilms. Vielleicht wäre dieser Stoff vor der Pandemie sogar mit der Begründung „zu übertrieben“ abgelehnt worden. Wie sieht realistisches Storytelling in der Krise aus – mit Blick auf die interne Kommunikation?

Prof. Dr. Michael Müller: Ich empfehle in der Krisensituation ganz nah an der Realität der Mitarbeitenden zu bleiben und künstliche Effekte zu vermeiden. Auf eine Headline wie z. B. „Corona is a crisis, but also a story“ sollten wir im Moment verzichten. Mitarbeitende müssen sich mit ihren Ängsten ernst genommen fühlen. Gut ist es, jetzt reale und authentische Geschichten zu erzählen. Zum Beispiel über Mitarbeitende, die eine Situation gemeistert haben, die wegen der Ausgangsbeschränkungen unmöglich erschien.

In der Krise steckt eine Chance, höre ich in der internen Kommunikation immer öfter. Der Satz mag stimmen, ich empfinde ihn im Moment nicht als angemessen. Ich höre von viele Belastungen bei den Mitarbeitenden und auch in ihren Familien.

Ja, in vielen Geschichten, wie wir sie aus Hollywoodfilmen kennen, gibt es ein Happy End. Es tröstet in Situationen wie diesen auch im ersten Moment. Aber wenn wir uns der Verführung des Happy Ends hingeben und wenn der Optimismus zu massiv ist, werden Geschichten unglaubwürdig. Es geht jetzt vielmehr um kleine Geschichten, in denen das Happy End noch offen ist. Ein Beispiel sind die Videos aus Italien, in denen gesungen oder geklatscht wurde. Hier zeigt sich, wie mit den Alltagsbelastungen auf eine freudvolle Art und Weise umgegangen wird. Das sind kleine, gute Stories.

Ich habe gelernt: Eine Geschichte hat einen Anfang und ein Ende. Dazwischen findet eine Transformation statt. Und es gibt neben anderen Protagonisten eine Heldin oder einen Held. Aber wenn das Ende offen ist, wie jetzt gerade, ist es dann noch im definitorischen Sinne eine Story?

Wir stecken im Moment noch mitten in der Geschichte und kennen das Ende nicht. Das ist hart. Wir können überlegen, wie es weitergeht und verschiedene Möglichkeiten durchspielen. Wir können also nur Fragmente der Geschichte liefern. Ein CEO, der jetzt erzählt, dass das Unternehmen in einem Jahr wieder super dasteht, wäre nicht glaubwürdig.

Welchen Sinn hat Storytelling in der Krise?

Wir Menschen sind „Storytelling Animals“. Die Art, wie wir uns an Erlebnisse erinnern oder wie wir Veränderungen denken, findet immer in Geschichten, in narrativen Strukturen statt.

Wir Menschen sind „Storytelling Animals“.

Sie helfen uns, aus der Vergangenheit zu lernen und uns eine Vorstellung von der Zukunft zu geben. Organisationen bestehen aus der Summe solcher Erzählungen. In der jetzigen Situation müssen Geschichten vor allem die Fragen der Mitarbeitenden beantworten, z. B. Was wird für unsere Gesundheit getan? Können wir weiter arbeiten? Wie läuft es mit der Kurzarbeit?

Ich höre jetzt auch oft „Narrativ der Krise“. Der Begriff wirkt abstrakt. Was ist damit gemeint?

Ein Narrativ schildert eine Art Grundmuster oder Grundannahme des Unternehmens. „So läuft es bei uns gerade ab“. Ich nenne es auch Meta-Narrativ. Wenn also von Narrativ der Krise gesprochen wird, meint dies den Umgang in und mit der Krise. Normalerweise gruppieren sich unter diesem Meta-Narrativ noch verschiedene andere Narrative – je nach Blickwinkel. Diese Blickwinkel sollte die interne Kommunikation aufgreifen, z. B. den des betrieblichen Gesundheitsmanagements: Was tun wir, um unsere Mitarbeitenden zu schützen? Oder den des Controllings: Wie sichern wir unsere Liquidität?

In unserem letzten Interview hast Du vom Dreischritt gesprochen: Storylistening, Storytelling und Storydoing. Wie funktioniert Storylistening in der Krise – unter dem Diktat der hohen Geschwindigkeit und Dynamik?

Es funktioniert genauso wie zu normalen Zeiten auch: Die Verantwortlichen der internen Kommunikation oder die Führungskräfte sollten den Mitarbeitenden zuhören, wie es ihnen ergeht. Einfach ein offenes Ohr haben. Das geht am Telefon oder in einem kurzen Webmeeting. Zwei meiner Kollegen halten jetzt z. B. alle 14 Tage ein „Virtual Campfire“ ab. Für zwei Stunden kommen Menschen virtuell zusammen und erzählen von ihren Erlebnissen.

Ob Krisen-, Veränderungs- oder regelmäßig stattfindende Kommunikation, die Prinzipien von Storytelling bleiben also die gleichen?

Im Prinzip schon. Ein Aspekt sollte jetzt aber unbedingt beachtet werden: Storytelling in der Krise muss beim Erleben der Mitarbeitenden ansetzen.

Storytelling in der Krise muss beim Erleben der Mitarbeitenden ansetzen.

Es geht nicht darum, die neusten Zahlen und Fakten nett zu verpacken. Der Schweizer Autor Jonas Lüscher hat dafür eine schöne Formulierung gefunden: Wenn Geschichten nur als Gleitmittel für Fakten dienen und keinen emotionalen Eigenwert mehr haben, also dass die Geschichte die Menschen auch bewegt oder berührt, – werden sie sinnlos.

Meine letzte Frage an Dich: Welche Geschichten liest Du – ein Experte für Storytelling – in diesen Krisenzeiten?

Die Welt ist ja seit einigen Wochen leicht in Sepia gefärbt. Es schwingt eine gewisse Melancholie mit. Ich fliehe aus dieser Realität in Geschichten. Ich lese Krimis vor dem Schlafengehen. Das ist vielleicht keine ehrenwerte, aber eine funktionierende Strategie. Das war ja schon immer eine Funktion von Literatur, z. B. von Märchen. Alice verschwindet durch ein Kaninchenloch ins Wunderland und erlebt dort etwas anderes.

Danke, Michael, für unser Gespräch, auch dass Du Dir die Zeit genommen hast. Alles Gute für Dich und das neue Buch, an dem Du gerade arbeitest.

MICHAEL MÜLLER

Mit gleichermaßen theoretischem wie praktischem Know-how ist Michael Müller seit Jahren einer der führenden Experten für narrative Methoden im Managementbereich. Durch seine Expertise verhilft er Unternehmen und Workshop-Teilnehmern zur Entdeckung ihrer eigenen Unternehmensgeschichten und damit zur Optimierung von Veränderungsprozessen und ganzheitlich integrierter Kommunikation.

Nach beruflichen Stationen bei Siemens und ProSieben entdeckte er schon in den 90er Jahren die Kraft des Erzählens für Unternehmen und entwickelte zahlreiche wirkungsvolle narrative Methoden. Michael Müller ist ausgebildeter systemischer Coach und Berater und leitet an der Hochschule der Medien Stuttgart das „Institut für Angewandte Narrationsforschung (IANA)“.

Er ist Mitveranstalter der jährlichen Konferenz „Beyond Storytelling“. Gemeinsam mit Christine Erlach bietet er die zertifizierten Fortbildungen „Storytelling im Unternehmen“ und „Narrative Organisationsberatung“ an. Soeben erschienen ist ihr gemeinsames Buch „Narrative Organisationen. Wie die Arbeit mit Geschichten Unternehmen zukunftsfähig macht“.

icon to top